25. Dezember 2011

Forensische Geologie

Osteographia (1733)
Am 20. Februar 1949 verschwand die 69-jähride Witwe Henrietta Helen Olivia Roberts Durand-Deacon spurlos aus ihrem Zimmer im Onslow Court Hotel, South Kensigton, London. Die Polizei verhörte die Anwohner des Hotels und bald darauf wurde John George Haigh verdächtigt, ein 40-jähriger Tagelöhner der bereits vorbestraft war wegen Diebstahls und Betrug. Er war auch die letzte Person die zusammen mit der Vermissten gesehen worden war. 
Haigh führte die Polizei zu einer alten Lagerhalle in der Leopard Road in Sussex in der einige seltsame Dinge aufgefunden wurden: eine Pistole, Schutzkleidung aus Gummi und drei Behälter für Schwefelsäure. Er machte keinen Hehl aus seiner Tat: 

"Miss Durand-Deacon existiert nicht mehr. Sie ist völlig verschwunden und keine Spur wird von ihr jemals gefunden werden. Ich habe sie in der Säure aufgelöst. Den Bodensatz habe ich auf der Leopard Road verteilt. Sie können mir keinen Mord nachweißen ohne einen Körper.

Glücklicherweise hatte Haigh einen wichtigen Punkt übersehen: das Gesetz benötigt keinen Körper sondern einen Nachweiß das ein Mord geschehen ist.
Der Pathologe Keith Simpson untersuchte den Boden vor dem Lagerhaus in der Leopard Road und bald wurde er auf einem seltsamen Kieselstein mit glattgeschliffenen Facetten aufmerksam. Simpson erkannte dass es sich um einen Gallenstein von Miss Durand-Deacon handelte - der gesuchte Beweiß um den Mord nachzuweißen. 

Gallensteine sind anorganische Konkretionen die aus säurelöslichen Mineralien bestehen, allerdings sind sie oft mit einem organischen Film aus Fett bedeckt, die in diesem Fall den Stein vor dem Angriff der Säure schützten.

Vielleicht ist der Haigh-Fall einer der außergewöhnlichsten Fälle in der Geologie als bevorzugte Methode der Forensik zur Anwendung kam, er ist aber bei weitem nicht der einzige.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Bodenproben die am Verdächtigen und am Tatort gefunden wurden miteinander verglichen um einen Zusammenhang zu beweißen. In 1856 beschreibt ein Artikel in der amerikanischen Zeitschrift "Scientific American" die Lösung eines Diebstahls mit der Hilfe von Sand. Der Geologe und Zoologe Professor Christian Gottfried Ehrenberg (1795-1896) aus Berlin berichtet darin, dass während einer Zugfahrt die Silbermünzen aus einem Schatzkästchen durch Sand ersetzt wurden. Daraufhin ließ er sich Sandproben von der Umgebung aller Bahnhöfe schicken, an denen der Zug gehalten hatte. Nachdem er den Herkunftsort des Sandes aus dem Kästchen identifiziert hatte, war es nicht schwer zwischen dem Bodenpersonal des entsprechenden Bahnhofes einen Hauptverdächtigen zu finden.

Abb.2. Bodenproben können sich in der Farbe, der Textur, Korngrößen, der petrographischen/chemischen Zusammensetzung, den Anteil von organischem Material (Humus, Schalenreste) untereinander unterscheiden, zugleich können diese Eigenschaften einzigartig für einen gewissen (Tat-)Ort sein.

Der viktorianische Autor Sir Arthur Conan Doyle setzte solchen Wissenschaftlern in 1887 ein literarisches Monument in der Form des beratenden Detektiv Sherlock Holmes, der sein Fälle mit forensischen Methoden zu lösen pflegte:

"Kenntnisse in Geologie: Verwendbar, aber begrenzt. Kann mit einem Blick verschiedene Böden unterscheiden. Nach Spaziergängen hat er mir Spritzer auf seiner Hosegezeigt und mir anhand ihrer Farbe und Zusammensetzung gesagt, in welcher Gegend von London sie ihm zuteilwurden."
"Eine Studie in Scharlachrot"

Doyle hielt sich auf dem Laufenden was wissenschaftliche Erkenntnisse angeht und war sicher auch betraut mit den Arbeitshypothesen des Österreichischen Kriminologen Hans Gross (1847-1915). In seinem Lehrbuch "System der Kriminalistik" (1891) schlägt Gross vor, dass Ermittler sich auch geologischer und geomorphologischer Karten bedienen sollten um mögliche Verstecke für Leichen zu finden: wie z.B. Steinbrüche, Sandgruben, Moore oder Gewässer. In seinem "Handbuch für Untersuchungsrichter" (1893) beschreibt er wie die petrographische Zusammensetzung von Schmutz- und Bodenproben dazu verwendet werden kann um einen Tatverdächtigen mit den Tatort in Zusammenhang zu bringen.
Es war der deutsche Chemiker Georg Popp (1867-1928) der dieses Prinzip zum ersten Mal anwandte um einen Mord zu lösen. Im Frühling  1908 wurde Margarethe Filbert nahe der Stadt Rockenhausen (Bayern) tot aufgefunden. Der zuständige Untersuchungsrichter kannte die Bücher  von Gross und hatte eine Studie von Popp gelesen, in der er Hornblende-Körner der Nasenschleimhaut einer Erwürgten mit den Partikeln unter den Fingernägeln des Täters verglichen hatte.
Im Fall von Margarethe Filbert gab es einen Verdächtigen, den Landarbeiter Andreas Schlicher, der aber behauptete am Tag des Mordes in seinen Feldern gearbeitet zu haben. Popp untersuchte den anhaftenden Schmutz und Schlamm an den Schuhen von Schlicher und kam zu einem ganz anderen Schluss. An den Schuhen fand er drei verschiedene Bodenarten: ein Sediment, vermischt mit Gänsekot, entsprach der Bodenart die im Innenhof von Schlichers Haus gefunden worden war, eine Schicht enthielt Fragmente aus roten Sandstein und die letzte Schicht enthielt Fragmente von Ziegelsteinen, Asche und Zement, ähnlich dem Boden an der die Tatwaffe - ein Gewehr - aufgefunden worden war. Keine dieser Bodenproben entsprach dagegen dem Boden der auf den Feldern - wo Schindler angeblich arbeitete - vorhanden war, reich an Bruchstücken aus Porphyr und Mineralien wie Glimmer und Feldspat. Schindler hatte eindeutig gelogen.

Auch in einem anderen höchst interessanten Fall konnten geologische Spuren einen wichtigen Hinweis auf den Ablauf eines Mordes geben.

Am Abend des 24. November 1936 wurde auf einer nicht sehr verkehrsreichen Straße in der Umgebung von Münster eine weibliche Leiche aufgefunden. Sie lag schräg mit dem Kopf gegen den Straßenrand ausgestreckt, drei Meter  daneben lag ein verbeultes Fahrrad dessen Speichen mit Blut und Erde bespritzt waren.
Prellsteinen am Straßenrand zeigten Blutspritzer die von unten nach oben verliefen. Der in die Fahrtrichtung nächste Prellstein fehlte und lag 3 Meter entfernt im Gebüsch an der Böschung. Er wies an zwei Stellen verschmierte Flecken auf.
Der Kopf lag inmitten einer großen Blutlache und an der Wollmütze, in den Haaren und Umgebung des Kopfes lagen weiße Kalkplättchen herum. Abgesehen von den Wunden am Kopf konnten keine Verletzungen gefunden werden - der Schädelknochen war mehrmals gebrochen, an der linken Schläfenhälfte lag eine runde Hautverletzung vor, der Knochen darunter schien jedoch unverletzt.

Die Polizei ging zunächst von einem Verkehrsunfall aus:

"Der objektive Befund gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass an dem Tod der Frau ein Zweiter schuld ist, vielmehr lässt der objektive Befund darauf schließen, dass Frau R. durch einen Unglücksfall zu Tode gekommen ist, indem sie auf der abschüssigen Straße mit dem Fahrrad zu Fall gekommen und hierbei mit dem Kopf gegen den Prellstein geflogen ist."
Abschließendes Gutachten der Mordkommission.

Diese Rekonstruktion schien mit der Aussage des Ehemann übereinzustimmen: Der Mann behauptete zusammen mit seiner Frau am 24. November gegen 16.30 Uhr auf der Straße in Richtung ihres Dorfes unterwegs gewesen zu sein. Als dichter Nebel aufkam fuhr er voraus. Zuhause angekommen wartete er längere Zeit auf seine Frau, als sie aber nicht kam machte er sich auf der Suche nach ihr.

Allerdings kamen bald Zweifel an dieser Geschichte auf, da klar wurde dass die Ehe nicht so harmonisch gewesen war wie vom Ehemann dargestellt. Es wurde beschlossen eine Exhumierung und genauere Leichenuntersuchung durchzuführen. 10 Tage nach dem Unfall wurde die Leiche exhumiert und der zertrümmerte Schädel vom Weichgewebe gereinigt und wieder zusammengesetzt. Dabei wurde die Austrittsöffnung einer Pistolenkugel an der rechten Schädelhälfte entdeckt. Bei der ersten Untersuchung war der Knochen so verrutscht gewesen, dass der untersuchende Arzt zwar die runde Hautverletzung bemerkt hatte,  den eigentlichen Schusskanal aber übersehen hatte.

Die Frau war angeschossen worden, allerdings erklärte dies nicht die Zertrümmerung des gesamten Schädels und vor allem des Gesichtsbereiches. Bei der zweiten Untersuchung wurde auch Blut in den Lungen festgestellt - der Schuss war nicht tödlich gewesen und das Opfer hatte sein eigens Blut eingeatmet.
Die Blutspritzer (die von unten nach oben verlaufen) am Prellstein ließen vermuten das der Kopf auf der Straße lag, als das Blut nach oben hin verspritzt wurde. Der Kopf war nicht - wie vorher angenommen - gegen den Stein geprallt. Die Kalksteinfragmente rund um den Kopf ließen vermuten, dass der zweiter Prellstein (der später im Gebüsch gefunden wurde) dazu benutzt worden war die angeschossene, aber noch lebende Frau, zu erschlagen.
Diesen Beweißen gegenübergestellt gestand der Ehemann schließlich den Mord.

Allerdings zeigt ein ungelöster Kriminalfall auch die Grenzen der  forensischen Geologie und forensischen Bodenkunde auf.

Im Jahre 1997 stießen Amateurtaucher in 24 Meter Wassertiefe im nordenglischen See von Coniston-Water auf ein seltsames Gebilde. Es handelte sich um eine Leiche die zusammen mit Bleirohre und Steinen in alten Decken eingewickelt worden war.
Bald darauf wurde der Ehemann einer im Jahre 1967 verschwundenen Frau verdächtigt und verhaftet - Gordon Park. Der Verdacht fußte vor allem auf den Fund eines Steines im See nahe der Leiche, da der Stein aus dem See Siltstein-Blöcken ähnelte die im Haus von Park verbaut worden waren. In 2004 untersuchte der Geologe Duncan Pirrie das Beweißstück mit der Kennzeichnung PDB 5/19 und stellte fest dass diese Gesteinsart nicht natürlich als Festgestein am Ufer des Sees zu finden ist. Der Fall schien klar, Gordon Park hatte den Stein von der Baustelle seines Hauses als Gewicht für den Leichensack verwendet.
Allerdings beauftragte die Verteidigung ein Gegengutachten das vom Geologen Kenneth Pye und später Andrew Moncrief ausgestellt wurde. Letzterer stellte fest, das der Stein ein metamorpher Grünschiefer (genau genommen handelt es sich um ein Grünschiefer-faziell überprägtes Tuffgestein, das unter den Handelsnamen "Westmorland green slate" vermarktet wird)  war, der natürlich in Aufschlüssen des Borrowdale Volcanic Group im mittleren Lake District vorkommt, im Norden des Coniston-Water gelegen. Allerdings sind Findlinge von diesem Gestein durch Eiszeitgletscher nach Süden hin verfrachtet worden.
Moncrief wies weiters darauf hin, dass die Blöcke aus Grünschiefer die im See gefunden worden waren, aus den glazialen Sedimenten stammen konnten die weit verbreitet in der Gegend sind - die Steine konnten in jedem Fall nicht als eindeutiger Beweiß gelten der den Leichnam und die Baustelle in Parks Haus in Verbindung brachten. Trotz dieser niederschmetternden Ergebnisse wurde Park zu einer Haftstraße verurteilt. In 2010 erhängte er sich in seiner Zelle - er hatte bis zuletzt seine Unschuld beteuert.
Der Richter fasste den Geologenstreit während des Prozesses mit folgenden Worten zusammen:

"Steine, meine werten Geschworenen, Steine also…[]…Die Wissenschaft, die der Untersuchung Zugrunde lag, war wirklich außerordentlich anspruchsvoll, nicht wahr? Sie war von einer Ehrfurcht gebietenden Güte, die wohl niemand von uns bisher je so genossen hat.
Es handelt sich nun einmal um Expertenwissen, aber ich glaube, es ist den Experten gelungen, ihre Aussage auf ein verständliches Maß herunterzuschrauben. Zumindest die entscheidenden Punkte sind uns klar geworden, wir haben verstanden, worin sich die Aussagen der beiden Forscher unterscheiden.
"

Trotzdem hat Geologie als forensische Naturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Forensische Geologie wird nicht nur dazu benutzt Täter und Tat miteinander zu verbinden, sondern auch um die Herkunft von Sprengstoffen und Schmuggelmaterial zu klären. Geologen helfen Gräber zu finden (z.B. mit GeoRADAR) oder die Geschichte eines Grabes zu rekonstruieren, z.B. wenn fremdes Bodenmaterial verwendet wird oder eine Umbettung der Leiche stattgefunden hat. Geologen können Quellen von Umweltverschmutzung lokalisieren und helfen Umweltverbrechen aufzudecken.
Und dies sind nur einige Beispiele für die Anwendung der Geologie bei der Lösung von Kriminalfällen - selbst Sherlock Holmes würde staunen.

Literatur:

BENECKE, M. (2007): Mordspuren - Neue spektakuläre Kriminalfälle - erzählt vom bekanntesten Kriminologen der Welt. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach: 494
BRESSAN, D. (2011): It's sedimentary, my dear Watson. Scientific American Blog Network "History of geology". Accessed 24.12.2011
CHESELDEN, W. (1733): Osteographia, or The anatomy of the bones. Historical Anatomies on the Web. Accessed 24.12.2011
PYE, K. (2004): Forensic Geology. In R.C. Selley, L.R.M Cocks and I.R Plimer (ed.) Encyclopedia of Geology. Elsevier: 261- 273
RUFFELL, A. & McKINLEY, J. (2005): Forensic geoscience: applications of geology, geomorphology and geophysics to criminal investigations. Earth-Science Reviews 69: 235-247
RUFFELL, A. & McKINLEY, J. (2008): Geoforensics. John Wiley & Sons: 332
WAGNER, E.J. (2006): The Science of Sherlock Holmes - From Baskerville Hall to the Valley of Fear, the Real Forensics Behind the Great Detective's Greatest Cases. John Wiley & Sons: 244

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